Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 57


Am Vormittag des nächsten Tages wurden sie von den Wächtern abgeholt, die sie schon am vorherigen Tag herumgeschubst hatten. Vielleicht waren es auch andere, sie hatten die Vier kaum genau betrachten können und wenn es um die Ruppigkeit der Staatmacht ging, war vermutlich ein Schubser wie der andere.
Sie wurden erneut befragt. Dieses Mal waren die Fragen subtiler und Malandro war sich sicher, dass auch Magie im Spiel war. Aber bei solchen Sachen hatte er schon früher danebengelegen und musste sich eingestehen, dass es vielleicht auch an seiner Paranoia lag (nicht, dass dieses Wort zu seinem aktiven Wortschatz gehörte. Außerdem war ein Zustand von beständiger Angst normal an dem Ort, an dem er aufgewachsen war, in seiner Familie und in der Fabrik).
"Und wenn sie es wissen wollen, ich würde Tis gerade gerne selbst seine Fresse polieren. Er hat alles verdorben."
"Was hat er verdorben, Herr Sabrecht?"
"Wir hätten's hier gut haben könn'. Und jetzt sitzn'n wir in ‘nem Zimmer mit gnemiarischen Gardinen davor. Und er is' noch nich' mal bei uns. Wahrscheinlich ist das ganz gut für ihn."
"Warum hat er ihrer Meinung nach versucht zu fliehen?"
"Dass is' es ja eben. Er wollte nich' fliehen. Er wollte nur nich' durch die Gegend geführt werden, wie ein Hund. Er is' schon die ganze Zeit durch'n Wind. Er weiß nich', was er will. Eben noch Berti und jetzt nichts mehr. Jetzt redet er wieder davon die Frühlingskönigin zu finden, um's noch mal als Priester zu versuchen. Weil es letztes Mal ja so gut geklappt hat."

Gunnar äußerte sich weniger aufgebracht, hielt aber mit seiner Meinung ebenfalls nicht hinter dem Busch. Er war jedoch erheblich lösungsorientierter.
"Und wie lange wird das hier noch dauern?" wagte er schließlich, als er hinausgeführt werden sollte.
"Wahrscheinlich ein bis zwei Wochen, dann werden wir sie nach Xpoch ausliefern."
"Nach Xpoch? Die werden uns hinrichten."
Der Offizier warf ihm einen mitleidlosen Blick zu.
"Irgendwo anders? Können sie uns irgendwo anders hinbringen? Irgendeine andere Grenze?"
Erneut erwiderte der Mann Gunnars Blick, ohne einen Muskel zu verziehen, sagte dann aber: "Wir werden es in Erwägung ziehen."

Der nächste Tag war vielleicht der bisher schlimmste für sie. Sie langweilten sich konstant, blafften einander an und fanden nur wenig Unterhaltung in den täglichen Tätigkeiten, die ihnen zur Verfügung standen. Zwischendurch versuchte Malandro mehrfach das Schloss mit der Hilfe einer verbogenen Gabel und eines kaputten Messers zu knacken, wobei es weder hilfreich war, dass die Innenseite der Tür kein Schlüsselloch besaß noch, dass seine Werkzeuge bei der Arbeit verbogen und zerbrachen.
"Mein Besteck bekommst du nicht", war Gunnars einziger Kommentar, als Malandro seine Werkzeuge hochhielt.
Sie hätte sich vermutlich besser gefühlt, wenn ihnen jemand gesagt hätte, dass an diesem Tag ein Bote der Frühlingskönigin aus Klifsen kam und das Horn entgegennahm, um es zu verbergen oder sogar zu vernichten. Trotz all der Überwachung war es Kol Therond gelungen, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen.
Alleine zu wissen, dass es dem Botschafter gelungen war, seine Geheimdienstausbildung für etwas Sinnvolles einzusetzen, hätte ihnen die nächsten Tage erträglicher gemacht.

Neun Tag dauerte es, bis ihre Langeweile endlich wieder unterbrochen wurde, nicht jedoch ihr Ärger. Dieser wurde vielmehr noch vermehrt, als endlich Tiscio wieder zu ihnen stieß. Er konnte sich kaum alleine aufrecht halten, seine Arme waren in ihren Steifen schienen schlecht zu bewegen und sein Gesicht zeigte immer noch die braunen Flecken, zu denen sich die Prellungen verfärbt hatten.
Ohne ein Wort zu verlieren, legte er sich auf die Pritsche, die von den beiden anderen frei gelassen worden war und auf der nichts von ihren Sachen verteilt lag.
"Da bist du ja." Die ersten Worte, die Malandro nach einer viel zu langen Zeit äußerte, waren mehr eine Feststellung als eine Begrüßung.
Tiscio nahm einige schwere, erschöpfende Atemzuge, bevor er eine Antwort geben konnte. "Es tut mir leid." Mehr brachte er nicht hervor.
"Nicht genug", sagte Gunnar und ging in die Küche, von wo aus sie ihn noch Grummeln hören konnten. "Die Uni kann ich vergessen."
"Nur, dass du es weißt. Dank dir sind wir eingesperrt. Wir verlassen dieses Zimmer nur, um von irgendwelchen Soldaten ausgequetscht zu werden. Und wir werden nach Xpoch ausgewiesen. Also herzlichen Dank."
"Es tut mir wirklich leid ... ich weiß nicht, was mich geritten hat. Ich will mich nicht mehr prügeln. Ehrlich."
"Grabenschleim. Fällt dir früh ein."
"Ich hätt' fast jemanden getötet."
"Das ist dein Problem? Wir werden hingerichtet und du? Du machst dir ... ach."
Malandro ließ sich auf sein Bett fallen. "Und ans Horn hast du überhaupt nicht gedacht. Hast du da mal drüber nachgedacht?"
Tiscios Stimme war sehr leise, als er endlich antwortet. So leise, dass Malandro sein letzte "'tschuldigung" fast nicht gehört hätte.

Die Situation wurde von da an nicht besser und wenn jemand sprach, waren es Malandro und Gunnar, die sich unterhielten. Und sie taten es meist so, als wäre Tiscio nicht einmal im Zimmer.
So vergingen neun weitere Tage, bis sie endlich ihrem Schicksal entgegengeschubst wurden.
Der Offizier erschien früh am Morgen, noch bevor einer von ihnen auch nur seine rudimentäre Morgentoilette vernachlässigt hatte.
Sobald sie den Schlüssel im Schloss hörten, standen sie bereits mit ihren Händen an Bettrahmen und Wand.
"Rühren. Oder was immer sie machen wollen, um sich ein wenig bequemer hinzustellen."
Verwirrt drehten sich die drei langsam zu dem Mann und seinen Begleitern um.
"Guten Tag, die Herren. Ich will mich nicht lange aufhalten. Die ganze Angelegenheit hat schon zu viel meiner Zeit in Anspruch genommen." Er wartete einen Augenblick, aber keiner der drei brachte ein Wort heraus.
"Also gut. Dann will ich ihnen mitteilen, was das Komitee entschieden hat. Sie werden auf fünf Jahre aus den [Hügelstätten] verbannt. Sollten sie danach wünschen, in unser Land zurückzukehren, können sie einen Antrag stellen und das Komitee wird darüber befinden, ob sie wieder einreisen dürfen. Haben sie das soweit verstanden."
Tiscio blickte verstohlen zu seinen Freunden hinüber, die seinen Blick mit unverhohlener Feindseligkeit erwiderten. Sie nickten nahezu synchron.
"Gut, dann hätten wir das geklärt. Dann bleibt noch festzulegen, wohin sie ausgewiesen werden wollen. Wenn ich es recht verstanden habe, dann wollen sie nicht in ihre Heimat zurückkehren. Ist das so?"
Dieses Mal nickten sie nacheinander unter dem forschenden Blick.
"Möchten sie einen Vorschlag unterbereiten oder sollen wir sie im Gebirge aussetzen?"
"Zur", schoss es aus Gunnar heraus, der eine deutlich bessere Vorstellung der Grenzen der [Hügelstätte] hatte, als seine Freunde. Außerdem war dies das Land, welches ihnen in ihren Diskussionen als das logischste erschienen war.

Und so fanden sie sich vier Tage später an einem leicht bewölkten September Mittag in einer kleinen Grenzstadt des südlichen Nachbarn der [Hügelstätte] wieder. Selbst Gunnar hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Namen der Stadt herauszubekommen.
Nach der langen Einkerkerung hatten sich die [Hügelstätte] doch noch als gute Gastgeber erwiesen und ihnen ein paar Abschiedsgeschenke gemacht. So waren sie mit einem kleinen Startkapital, einem Brief für das Hügelstättische Konsulat in Ujiposko, der zurschen Hauptstadt, genügend Nahrung und ihrer alten Ausrüstung ausgestattet.
Tiscio war inzwischen fit genug, dass er sie auf ihrem Weg zur Hauptstadt nicht aufhielt und sich sogar an den Aufgaben, die eine solche Wanderschaft mit sich brachte beteiligte, aber sonst war ihr Verhältnis immer noch eisig.
Zur war ein zivilisiertes Land und auch wenn die Sprache der Einheimischen für die Xpochler klang, als hätte jemand ihre eigene durch einen Fleischwolf gedreht, Hackbällchen daraus geformt, sie gut durchgekaut und wieder ausgespuckt, gelang es ihnen doch, sich mit Händen, Füßen und einigen vorsichtigen Worten zu verständigen. Einer naturphilosophischen Vorlesung hätte Gunnar so nicht folgen können, aber mit jedem verstrichenen Tag war er sich sicherer, dass das nur ein temporäres Problem sein würde. Als sie neun Tage später Ujiposko erreichten, verstanden sie die Sprache immerhin so gut, dass sie auf Nachfragen nicht nur die Richtung zum Konsulat erklärt bekamen, sondern die Antwort auch noch verstanden. Außerdem hatte sie unterwegs festgestellt, dass eine Sprache, die gesprochen Schmerzen in ihren Ohren zu verursachen schien, gesungen nach einer kurzen Eingewöhnungsphase recht lieblich klingen konnte. Und es wurde viel gesungen in Zur. Wie sie in einem Gasthaus erfuhren, war im Heer das Singen fast wichtiger als das Marschieren - wenn sie es richtig verstanden hatte.
Den dreien, denen Gesang fast nur aus den Tempeln und den Arbeitergesangsvereinen vertraut war, erschien das ziemlich seltsam, machte die Reise aber nicht unangenehmer.

In der Botschaft in Ujiposko begutachtete man sie anfangs misstrauisch. Nachdem sie jedoch die Begleitbriefe vorgelegt hatten, verhalfen sie ihnen zu einer Unterkunft für den nächsten Monat, und ausreichend Nahrung, mit der Aussicht, ihnen ein paar Türen zu einem eigenen Einkommen zu öffnen.

Aber sobald sie vor ihrer neuen Behausung standen, bemerkten Gunnar und Malandro, dass Tiscio sich hatte zurückfallen lassen. Als sie sich zu ihm umdrehten, kam ihnen der ehemalige Berti mit einer Erklärung zuvor.
"Ich komm nich' mit rein."
Malandro sah ihn lange an, bevor er nickte. Gunnar brauchte einen Moment länger, war aber der erste, der wieder sprach.
"Wohin willst du?"
"Was denkst du?" schoss Malandro zurück.
"Die Frühlingskönigin? Weißt denn überhaupt, ob Zur eine hat?"
"Nein, aber irgendwann werden sie schon eine haben."
"Mann, das ist hart."
"Weiß nich'. Wir ha'm nich' so gut funktioniert letztens."
"Das ist wohl wahr. Aber wir kommen schon wieder zusammen."
"Wie denn? Ihr habt mich die ganze Zeit geschnitten."
"Aber wir kennen uns seit ... halt, schon immer. Das kriegen wir auch wieder hin."
"Es ist nich' nur ihr. Bin auch ich selbst. Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe. Und das will ich loswerden. Das war schon immer in mir. Aber so kann ich nich' mehr weiter. Ich muss geh'n. Ich mach's nur schlimmer, wenn nich'."
"Und deswegen willst du zur Frühlingskönigin?"
"Mit Vilet war ich anders."
"Vilet war speziell. Glaubst'e, dass die alle so sind? Walde wär anders."
"Weiß nich', aber ich muss's versuchen."
Malandro nickt und die drei schwiegen ein weiteres Mal.
Schließlich machte Gunnar einen Schritt auf ihren Freund zu und nahm ihn in den Arm.
"Du kannst immer zu unserer Tür kommen, wenn wir denn eine haben."
"Vielleicht noch ein Tipp?"
"Brauche keinen Tipp, Mal."
Sobald Gunnar Tis losgelassen hatte. standen sich der Berti und der Zauberlehrling gegenüber, wussten jedoch nicht, was sie sagen sollten.
Als die Stille zu unerträglich wurde, nickten sie sich einmal zu, Tiscio wandte sich ab und ging die Straße hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Die Jungen aus der Feldstrasse